Heilsames Singen – Singen heilender Lieder

Wenn du die Überschrift dieses Kapitels liest, so wird vermutlich dein kritischer Verstand zweifeln, dass Singen heilen kann. So wäre es auch mir noch vor einigen Jahren gegangen. Deshalb möchte ich dir nun schildern, wie ich selber zum Singen kam und später die heilsamen Lieder kennen und wertschätzen lernte. Als Internatsschüler musste ich anfangs in einem Chor mitsingen. Da ich recht lustlos mitmachte, war ich keine Bereicherung und durfte aus dem Chor austreten. Damals prägte sich mir die Überzeugung ein: „Ich kann nicht singen!“ Bis vor wenigen Jahren war ich dieser festen Überzeugung und lernte leider weder das Notenlesen noch das Spielen eines Instrumentes. Wenn ich früher bei guter Stimmung zu pfeifen begann, bekam ich kritische Rückmeldungen, die mich mut- und lustlos machten. Als ich vor ca. zehn Jahren in einer Kirche einen Gospelchor hörte, forderte der Dirigent das Publikum auf, bei einfachen Liedern mitzusingen. Zaghaft wagte ich meine Stimme zu erheben und spürte sehr bald viel Lust und Freude dabei. Ich sehnte mich damals danach, auch einmal in einem solchen Chor mitzusingen und aufzutreten. Unter den Sängerinnen erkannte ich eine Patientin von mir, welche ich beim nächsten Arztbesuch über den Chor ausfragte. Sie spürte mein Interesse und machte mir Mut, zur nächsten Chorprobe mitzukommen. Direkt zu Beginn offenbarte ich dem Chorleiter und den Mitsängern meine Befürchtung, dass ich nicht gut genug singen könnte. Sie machten mir wohlwollend Mut, es zu probieren und behaupteten, dass jeder Mensch singen könne. Erleichtert stellte ich fest, dass ich zur Aufnahme in den Chor nicht vorsingen musste. Der Chorleiter Bernhard war ein begeisterter und begnadeter Musiker, der sehr humorvoll war und niemals einzelne Sänger kritisierte. Ich stellte mich anfangs neben einen erfahrenen Mitsänger und übte, mitzuhalten, indem ich Bruchteile von Sekunden nach ihm den gleichen Ton zu treffen versuchte. Dies gelang mir ausreichend gut, sodass ich mich schnell im Chor wohl fühlte, immer sicherer wurde und auch mit den Notenvorgaben mehr anfangen konnte. Die lebensfrohen Gospelgesänge begleiteten mich als Ohrwürmer auch meist in der darauffolgenden Woche und hoben meine Stimmungslage deutlich an. Vor diesen neuen Erfahrungen konnte ich mir niemals vorstellen, dass ich einmal so begeistert singen würde. Heute werde ich öfter auf meine schöne Tenorstimme angesprochen und habe meine Stimme wertschätzen und lieben gelernt.

Vielleicht hast auch du ähnliche Vorurteile und Ängste, was deine Fähigkeit zu singen betrifft. Ich würde mich freuen, wenn ich dir nun etwas Mut gemacht habe, Ähnliches zu wagen.

Vor ca. sieben Jahren kam ich in Kontakt mit dem Singen „Heilsamer Lieder“. Ich besuchte damals mit meinem Bruder und meinem Freund Günter erstmals den Pfingstkongress des Förderkreises für Ganzheitsmedizin in Bad Herrenalb. An den Kongresstagen sang und tanzte eine bekannte Seminarleiterin für Singreisen, Alwine Deege (Initiatorin der „Nächte der spirituellen Lieder“ und der „Fährfrauenbewegung“ in Deutschland), zur Morgeneinstimmung mit interessierten Teilnehmern. Dies machte uns so viel Freude, dass wir uns zu einer Sing – Pilgerwanderung mit ihr auf dem Jakobsweg anmeldeten. Diese Pilgerwanderung begeisterte uns so sehr, dass wir in den nächsten Jahren viele Urlaube mit ihr u.a. auf Gomera, in der Bretagne und am Niederrhein verbrachten.

Die heilsamen Lieder, auch „Herzenslieder“ genannt, werden meist in unserer Muttersprache Deutsch gesungen, haben kurze und tiefsinnige Texte und können somit schnell und leicht mitgesungen werden. Sie werden, wie Mantren, sehr oft wiederholt, sodass sie unser tieferes Bewusstsein erreichen. Wiederholtes Singen und Rezitieren, wie zum Beispiel bei Taizé-Gesängen, Mantren oder dem Rosenkranzgebet, führen wissenschaftlich nachgewiesen (Stressforscher Dr. Herbert Benson) durch Unterbrechung des Stroms der Alltagsgedanken zu einer körperlichen, geistigen und seelischen Beruhigung. Dies zeigt sich in verlangsamten Gehirnwellen (alpha-Wellen), Blutdruck- und Pulssenkungen, Abbau von Stresshormonen, Harmonisierung von Körperrhythmen und Stärkung des Immunsystems.

Einer der bekanntesten Komponisten ist der Musikwissenschaftler Dr. Karl Adamek, der viele Jahre wissenschaftlich die Wirkungen des Singens erforschte und seine heilsame Wirkung nachweisen konnte. Er machte das Singen in Deutschland wieder populär und förderte dadurch die Volksgesundheit, weswegen er das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam. In der Nachkriegszeit wurde das Singen in Kindergärten, Schulen und im Alltag leider vernachlässigt, vermutlich weil das Singen in der Nazizeit zu Propagandazwecken missbraucht worden war. Durch den sehr berührenden Film „Wie im Himmel“ wurde die heilsame Wirkung des Singens bekannter. Heutzutage erfährt in Deutschland das Singen eine Renaissance, sodass sich viele Hunderte von Menschen in großen städtischen Sälen einfinden, um altbekannte und neue Lieder gemeinsam zu singen.

In Deutschland gibt es mittlerweile viele bekannte Komponisten und Sänger von heilsamen und spirituellen Liedern wie zum Beispiel Dr. Karl Adamek, Joachim Goerke, Marc Fox, Alwine Deege und der Diplom-Musiktherapeut Wolfgang Bossinger, Leiter der „Akademie für Singen und Gesundheit“ und von „Singende Krankenhäuser e.V.“. Die Heiligenfelder Kliniken für Psychosomatik in Bad Kissingen nahmen als erste in Deutschland die Heilmethode des Singens in ihr Therapieprogramm auf.

Wie das Sprechen gehört das Singen zum Kern des Menschseins und ist Quelle für die seelische, körperliche und soziale Gesundheit des Menschen. Weltweit konnte in vielen biologischen und medizinischen Studien wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass Singen Glückshormone (Serotonin) ausschüttet und somit antidepressiv wirkt. Gleichzeitig werden beim Singen IgA Antikörper erhöht, was die Abwehrkräfte steigert. Die vermehrte Ausschüttung des Melatonin Hormons verbessert die Schlafqualität und wird unter anderem für die Bekämpfung von Krebszellen benötigt. Ferner wird das Bindungshormon Oxytocin (auch Kuschelhormon genannt) gesteigert, welches ein ausgesprochen starkes Gefühl der Verbundenheit (Empathie) zwischen Menschen erzeugt und Ängste reduziert. Das Singen senkt den Stresshormonspiegel und hat somit eine tiefe beruhigende und Kräfte aufbauende Wirkung. Darüber hinaus werden beim Singen Beta-Endorphine ausgeschüttet, körpereigene Substanzen, die chemisch mit Opium verwandt sind und stark schmerzdämpfend wirken. An seelischen Heilfaktoren fand man eine deutliche Verbesserung der Lebensfreude, eine Förderung sozialer Kontakte mit Stärkung des eigenen Urvertrauens. Studien belegen, dass regelmäßig singende Menschen vergleichsweise lebenszufriedener, leistungsfähiger, sozial engagierter, belastbarer, empathiefähiger und insgesamt seelisch und körperlich gesünder sind. Singen, auch klingender Atem genannt, bildet eine Brücke zwischen Körper und Seele und spricht vorwiegend unsere Gefühle an, ist also Ausdruck und Spiegel unserer Seele. Der menschliche Körper ist ein Klangkörper, also ein Instrument. Die Stimme beeinflusst und verrät unsere Stimmung. Aus Leib und Seele Singen führt zu einer tiefen Verbundenheit mit sich selbst und zu einer tiefgreifenden Selbstveränderung. Der eigenen Stimme singend lauschen ist eine Form der Meditation. Singen ist sicherlich kein Allheilmittel, es unterstützt jedoch unseren Gesundungsprozess bei Krankheiten auf freudvolle Weise. In wissenschaftlichen Studien konnten positive Wirkungen bei regelmäßigem Singen auf die Föten im Uterus, auf Schwangere bei der Geburt, bei Frühgeborenen auf Intensivstationen, bei der Entwicklung von Kleinkinder (Wiegenlieder), zur Gewaltprävention und Intelligenzförderung bei Kindern, Resozialisierung von Obdachlosen, sowie bei der Rehabilitation von Gefängnisinsassen nachgewiesen werden. Speziell im Bereich der Behandlung von Krebserkrankungen sind mir keine wissenschaftlichen Studien bekannt. Dennoch gehe ich davon aus, dass sich bei diesen seelisch und körperlich sehr belastenden Extremsituationen die Stress abbauenden, angstlösenden, schmerzstillenden, antidepressiven und soziale Kontakte fördernden Wirkungen heilsam sowohl auf den seelischen Zustand, als auch auf das körperliche Immunsystem auswirken. Auch nach der neueren Hirnforschung fördert das Singen bei starker emotionaler Beteiligung unsere Selbstheilungsvorgänge. Der bekannte Professor Gerald Hüther sagte: „Singen ist Kraftfutter für Gehirne in jedem Lebensalter.“ Dementsprechend wirkt Singen bei der Alzheimer Erkrankung, anderen Formen der Demenz, sowie bei Schlaganfällen mit Sprachverlust eindrucksvoll positiv. Interessanterweise konnte festgestellt werden, dass die Fitness von Profi-Sängern mit der von Dauerläufern vergleichbar ist und das Singen eine lebensverlängernde (Anti-Aging) Wirkung haben kann. Bei der Befragung von 100-Jährigen fand man erstaunlicherweise heraus, dass alle sangen!

Ich finde es wichtig, Singen nicht an Leistung (was Stress macht) zu knüpfen, sondern das absichtslose Singen zu praktizieren, was jeder allein für sich oder in einer Gruppe tun kann.

Meine Frau Monika und ich werden das gemeinsame Singen heilsamer Lieder als einen wichtigen Heilfaktor in den Tagesablauf unserer geplanten Seminare für Krebskranke integrieren. Deshalb begann ich vor ca. fünf Jahren Gitarrenunterricht zu nehmen, um diese Lieder instrumental begleiten zu können.